Yoshiaki Onishi

Envoi II für Streichtrio

Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Edition Gravis, Brühl 2016
erschienen in: das Orchester 09/2018 , Seite 74

Die Idee, ein Musikstück könnte gleichzeitig Teil zweier Zyklen sein, ist in der Geschichte vermutlich noch nicht so häufig umgesetzt worden. Einmal abgesehen von Stücken, die in Über- oder Bearbeitungen Eingang in neue werkzyklische Zusammenhänge gefunden haben, hat kaum je ein Komponist eine solche „Schnittmenge“ bewusst konzipiert.
Mit Envoi II für Streichtrio, entstanden für das Music From Japan Festival in New York, hat der junge japanische Musiker Yoshiaki Onishi ein Stück geschaffen, das als Kreuzungspunkt zu zwei Zyklen gehört: zu den Six aspects du néant für Streichquartett und seine Unterformationen, und zu einer Werkreihe mit dem Übertitel Envoi für verschiedene Instrumente wie Ondes Martenot oder Violoncello.
Onishi ist vor allem ein Klangkünstler, der aus den drei Streichern in Envoi II jede nur vorstellbare Tonfarbe und -struktur herausholen will. Der Blick in die Partitur erweckt zunächst einmal den Eindruck eines rasch wechselnden musikalischen Geschehens, das aber in seinen Binnenstrukturen – vergleichbar der Minimal Music – durchaus auf die Repetition von kleinen und kleinsten Bausteinen setzt. Diese Bausteine können Tonfolgen sein, aber auch Klänge oder Taktstrukturen, zum Beispiel der stetige Wechsel zwischen 5/16- und 6/16-Takten im mittleren Teil des ungefähr 14 Aufführungsminuten dauernden Werks.
In gut 350 Takten bringt Yoshiaki Onishi eine geradezu atemberaubende Fülle an Klängen, Klopf-, Säge- und Schabgeräuschen unter, die von Violine, Viola und Violoncello mit höchster Präzision erzeugt werden müssen. Das Vorwort zu Envoi II gibt hierzu klare und detaillierte Anweisungen, und weitere Ausführungsbezeichnungen finden sich (zum Teil extrem klein gedruckt) im Notentext selbst.
Und als ob der Komponist sicherstellen wollte, dass kein noch so entfernter Toncharakter verloren geht, lässt er die drei Streicher in jeweils eigener Skordatur unter Berücksichtigung von Vierteltönen und über das übliche Maß hinausgehenden Intervallen spielen. Das sorgt für stark vom üblichen Streicherklang entfernte Eindrücke, die durchaus mit Wörtern wie gespenstisch oder schrill beschrieben werden können.
Envoi II aus dem Jahr 2016 von Yoshiaki Onishi ist ein Werk eines Klangbastlers für Klangbastler, die sich technisch auf allerhöchstem Niveau bewegen und im Ensemble quasi blind zusammenzuspielen im Stande sind. So können dann die ausufernden akustischen Bilder Onishis entstehen, deren Farbigkeit die gleichzeitig sehr komplex und doch in ihrer Grobgliederung übersichtlich erscheinende Partitur nur erahnen lässt.
Daniel Knödler